Wenn zwei sich gleichen - von Werner Hassler
(Mindener Tageblatt vom 09.05.1992 - www.mt.de)

Schon seit jeher haben Zwillinge ihren Mitmenschen so manches Rätsel aufgegeben. Und ganz besonders, wenn es sich dabei um eineiige Zwillinge handelt. Sie plärren gemeinsam, lachen zur gleichen Zeit, zur selben Stunde bekommen sie die ersten Zähnchen, Masern oder sonstige Wehwehchen.

So auch Karins Zwillinge Daniel und Johannes. Schon seit einigen Tagen kränkelten sie – immerhin nichts Ernsthaftes, wie Karin vermutete. Aber als sich heute noch Fieber einstellte, geriet sie doch in Sorge um ihre beiden Rangen.

Aber allein mit zwei solchen oft lebhaften Wichten den Arzt aufzusuchen, das war gar nicht so einfach. Und gerade heute war ihr Mann für sie keine Stütze, war er doch wegen eines wichtigen Termins im Büro unabkömmlich.

Deshalb bat Karin ihre allerbeste Freundin Beate, sie doch mit den Zwillingen zum Arzt zu begleiten.

"Aber das tu' ich doch gerne!" lautete die fröhliche Zusage von Beate.

So saßen sie im gutgefüllten Wartezimmer. Karin mit Daniel und Beate mit Johannes auf dem Schoß. Während die Zwillinge damit beschäftigt waren, mit großen neugierigen Augen das Wartezimmer einer eingehenden Inspektion zu unterziehen, wurden sie von einer gegenübersitzenden älteren Dame mit aufmerksamen Blicken gemustert. Schließlich konnte sich die Dame nicht mehr zurückhalten: "Also das ist ja fast unglaublich, wie sich die beiden Kinder ähneln!"

"Das ist ja auch kein Wunder", lächelte Beate, "sie haben ja auch schließlich denselben Vater!"

Die ältere Dame senkte den Kopf. Sie schien sichtlich betroffen zu sein, hier offensichtlich ein unangenehmes Thema berührt zu haben. Sie nestelte an ihrem Kleid, hüstelte verlegen, als ob sie der jungen Frau eine Erklärung schulde. "Nun ja", meinte sie schließlich, "das, das kommt auch in den besten Familien vor."

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